Im Frühjahr 1977 übernachtete ich mit meinem Mann in unserem Campingbus. Ich erwachte in der Nacht mit starken Schmerzen im unteren Bauch. Es war stockfinster. Ich konnte mich nicht rühren, fühlte mich wie gelähmt. Und spürte immer mehr Angst, starke Angst. Auch Angst zu sterben. Ich lag weiter völlig starr, weckte auch nicht meinen Mann. Letzteres fiel mir erst am nächsten Tag ein. Ich hätte ihn doch wecken, mit ihm reden können. Aber in der Nacht war ich nicht auf diese Idee gekommen. Ich lag da, es war dunkel, die Schmerzen blieben und auch meine Angst.
Irgendwann schlief ich wieder ein, aber es war kein tiefer Schlaf. Als ich am nächsten Tag erwachte, hatte ich etwas schnelleres Herzklopfen als sonst, und das ging nicht weg. Tagelang blieb das so und verunsicherte mich sehr.
Im Nachhinein sehe ich diese Nacht als Beginn meines ‚Absturzes‘, denn in der Folgezeit erlebte ich immer stärkere Herzattacken der verschiedensten Art, obwohl mein Herz organisch gesund war, wie sich bei einer Untersuchung herausstellen sollte. Hinzu kamen bald Angst und Panikattacken. Angst zu sterben, aber auch einfach nur Angst, ohne dass ich sagen konnte wovor. Ängste und Panik traten anfangs besonders nachts auf. Manchmal schlotterten mir die Beine oder mein ganzer Körper schlotterte. Ich erlebte die Angst wie ein Fallen ins Bodenlose: Niemand und nichts kann mich halten, mich retten! Ich selbst schon gar nicht!
Was ist denn nur los mit mir? Mir geht es doch eigentlich gut! Warum habe ich denn Angst? Und wovor? Ich wusste es einfach nicht. Ich fragte mich sogar, ob ich nicht meine Hausfrauen-Pflichten ernster nehmen und/oder eine bessere Ehefrau sein müsste. Ob es mir dann nicht besser gehen könnte. Unglaublich, aber diese und ähnliche Fragen stellte ich mir, was aus heutiger Sicht völlig abstrus erscheint.
Später trat die Angst zunehmend auch am Tag und bei den verschiedensten Gelegenheiten auf. Und ich ängstigte mich davor, dass die Angst wiederkommt, hatte nun auch noch Angst vor der Angst! In der Folge schränkte das meinen Bewegungsradius zunehmend ein, bis ich mir kaum noch etwas zutraute. Ich fuhr nur noch selten alleine mit dem Auto, was ich eigentlich gerne machte. Ich fuhr fast gar nicht mehr in Urlaub, wollte einfach nicht woanders übernachten, am liebsten zuhause bleiben. Aber auch dort tauchte die Angst auf, auch dort plagten mich die Herzattacken.
Dem Rat meines Hausarztes folgend machte ich keine Therapie, sondern nahm Beruhigungstabletten, ohne die ich dann bald nicht mehr auskam. Die Tabletten wirkten erst einmal beruhigend, dämpften die Angst oder beseitigten sie – zumindest vordergründig und für eine gewisse Zeit. Doch nach fast jeder Tabletteneinnahme quälte ich mich damit, dass ich es wieder nicht ohne diese geschafft hatte.
Irgendwann erzählte mir eine Freundin, dass ihr Stiefopa sie als ganz kleines Kind ‚sexuell missbrauchte‘. Ich sagte nicht viel dazu, aber mir fiel mit Schreck ein: Das hab ich doch auch erlebt! Mit meinen zwei ältesten Brüdern! Doch ich sagte nichts, weder gegenüber der Freundin noch sprach ich in der Folgezeit mit Anderen darüber. Ich packte diese kurze Erinnerung einfach wieder weg.
Weil es mir immer schlechter ging, entschied ich mich, rund 5 Jahre nach der geschilderten Nacht, doch für eine Therapie, die mir tatsächlich in meinem Befinden wesentliche Verbesserung verschaffte. Ich konnte nach einer gewissen Zeit die Tabletten weglassen, benötigte bei einer Tachykardie, also sehr heftigem Herzrasen mit einem Puls von mehr als 180, keinen Notarzt mehr und überstand die Herzattacke ohne diese immense Angst zu sterben. Die Gründe, warum es mir schlecht ging und warum ich Herzprobleme hatte, blieben leider ungeklärt. Dies besonders deshalb, weil die Therapeutin die Therapie nach nicht einmal zwei Jahren wegen ihres Umzuges in eine weit entfernte Stadt beendete.
Jetzt werde ich wohl nie mehr Gelegenheit haben, über ‚das‘ mit meinen Brüdern zu reden! Denn genau das hatte ich mir auch von der Therapie erhofft, dass ich zum ersten Mal darüber reden könnte. Dass das nun nicht mehr möglich war traf mich zutiefst.
In den ersten Jahren nach dieser Therapie ging es mir aber insgesamt ganz gut, die Herzprobleme tauchten immer mal wieder auf, doch ich konnte recht gut damit umgehen.
Einige Jahre später schaute ich mir eine von Wildwasser konzipierte Ausstellung zum Thema ‚sexueller Missbrauch‘ an bzw. nur zum Teil an, denn irgendwann musste ich den Rundgang unter zunehmend heftigerem Weinen abbrechen. Dadurch ausgelöst sprach ich zum ersten Mal mit einer Freundin, mit meiner Schwester Lisa und auch mit meinem Mann darüber, dass mich meine zwei ältesten Brüder ‚sexuell missbraucht‘ hatten. Darüber zu reden war äußerst schwierig, weil ich mich schämte, aber auch weil ich mich schuldig oder zumindest mitschuldig fühlte. Durch das Erwähnen der sexuellen Gewalt, ohne dass ich Details schilderte, erinnerte ich mich nach und nach an einzelne Übergriffe. Ich redete jedoch nicht mehr weiter darüber.
Bald darauf ging es mir zunehmend schlechter. Tagelang spürte ich starke innere Unruhe und erhöhte Herzfrequenz bzw. unregelmäßiges Herzschlagen. Sogar die Ängste tauchten wieder auf. Und das blieb so. Ich konnte mir einfach nicht erklären, weshalb es mir zunehmend schlechter ging. Bis mir bei einem Gespräch mit einer Freundin die Gründe dafür klar wurden: Endlich hatte ich zum ersten Mal über die sexuelle Gewalt geredet, was befreiend wirkte. Ich war anschließend jedoch davon ausgegangen, ich könne weiter so leben wie zuvor. Also das Thema wieder wegpacken. Aber das ging nun nicht mehr.
Deshalb entschied ich mich bald dafür, mir wieder eine Therapeutin zu suchen, was natürlich eine gewisse Zeit beanspruchte. Ich wollte wissen, was mit mir los ist. Ich wollte die Gründe für meine Herzprobleme und für die Angstattacken herausfinden. Und dies ganz besonders: Ich wollte nicht noch weitere Jahre leiden! (Seit der oben beschriebenen Nacht waren bis zum Beginn meiner zweiten Therapie rund 14 Jahre vergangen.) Ich war es so leid zu erleben, dass es mir schlecht und immer schlechter ging und noch nicht einmal die Ursachen dafür zu kennen!
Also begann ich eine weitere Psychotherapie bzw. Analyse, ahnend und mir wünschend, dass es sehr in die Tiefe gehen wird. Die Analyse hat mir über vieles Klarheit verschafft – auch darüber, weshalb in der geschilderten Nacht die Schmerzen, das Gelähmtsein und die Todesangst auftraten. Außerdem wollte ich endlich über die Übergriffe durch meine beiden Brüder reden.
Und dann sagte ich gleich zu Beginn der Therapie, ohne zu wissen, wovon ich rede: Und da war noch etwas…. – Über all das berichte ich in meinem Buch.